Jede und jeder spielt eine Rolle!

17/12/2023

Ein Beitrag über Rechte und Pflichten

Wer sind wir auf der Arbeit? Was müssen wir leisten? Sind wir zumutbar? Tun wir, was wir können, oder was wir sollen? Was macht es mit uns, wenn wir frei entscheiden können, worin unsere Expertise liegt? Was passiert, wenn es alle anders sehen?

Das Einfinden in eine Rolle beschäftigt uns das ganze Leben – bewusst oder unbewusst. In eine Rolle gedrängt, empfinden wir Spannungen, in eine Rolle befördert, können wir wachsen. Die persönliche und gemeinsame Entwicklung ist in der besten Gesellschaft ein Fokus, der sich durch die gesamte Unternehmung zieht. Die Kernfrage des Jahres 2022: Wie entwickelt man eine Struktur ohne, dass alles aus den Fugen gerät und mehr noch; damit mehr Sicherheit und Selbstwirksamkeit entsteht.

Der Ausgangspunkt

Unsere Agentur ist organisch mit den zunehmenden Aufgaben gewachsen, sodass wir durch Gleichzeitigkeit von Projekten und Einarbeitungen Einbußen an Struktur und Überschaubarkeit feststellen. Jetzt wollen wir auf keinen Fall blinden Flecken entstehen lassen, dieser Herausforderung aber auch nicht mit verstärkten Hierarchien und Kontrolle begegnen. Denn genau davon wollen wir weg. Wenn sich Zuständigkeiten überlagern und Verantwortung nicht deutlich kommuniziert wird, hat das inflationäre Berichterstattung bei Vorgesetzten zur Folge, damit das unsichere Gefühl der ungeklärten Verantwortlichkeit für die Mitarbeitenden schwindet. Freigaben müssen (schnell) erteilt werden, ohne dass die Verantwortlichen im Prozess sind. Symptome, deren Ursachen behandelbar sind: Es braucht eine klare und eine neue Verteilung. Adieu, ihr unliebsamen Positionsbeschreibungen; adieu, Junior PM! Adieu, Senior Designerin! Und lebe wohl, Art Direktor – willkommen, echte Verantwortlichkeit!

Keep on rollin'

Wir haben uns für das Rollenmodell entschieden, welches in fundamentalistischer Form aus dem Organisationsmodell der Holocracy bekannt sein kann. Wir glauben, es ist gut, mit erprobtem Konzept in solch einen Prozess zu gehen. Auch wenn die theoretische Literatur dazu nur wenige praktische Ansätze bietet. Dass der Prozess 300 Stunden Arbeit, Diskurs und Aushandlung bedeuten würde, haben wir nicht erwartet, aber heute wissen wir: Es ist jede Minute wert. Und jede weitere, die es noch bedarf, wird es wert sein.

Das Rollenmodell sagt, dass man im Konsent zu einer Rollenverteilung auf alle Mitarbeitenden kommt. Also nicht: sind alle einverstanden, sondern: hat jemand Einwände und sind sie so stark, dass der Entschluss nicht tragfähig ist. Eine Rolle beschreibt die Verbindung aller Aufgaben und Zuständigkeiten zu einem Anforderungsprofil. Was ist die Summer der Aufgaben unseres Motiondesigners? Wenn das klar ist, ist auch die Verantwortlichkeit geklärt. Und dann geht es um die größte Expertise und die Lust an der Sache, aber auch darum, welches Potenzial andere in einem sehen – einem zutrauen.

In 10 Runden haben wir als Agentur mit 8 Mitarbeitenden 113 Rollen mit je 5 bis 10 konkreten Verantwortlichkeiten ausmachen können. Es entsteht ein Cluster, das eine erstaunliche Masse von Tätigkeiten aufzeichnet. An dieser Stelle würden wir heute umgekehrt verfahren und alle relevanten Rollen identifizieren, die es für anfallende Tätigkeiten und gewünschte Abläufe bedarf. So wäre schnell deutlich, ob wir diesen Bedarf abdecken, oder das Team womöglich noch erweitert werden muss.

Wir gehen den eingeschlagenen Weg jedoch erst mal weiter. In einer unseren parlamentarischen Sitzungen werden die Rollen verteilt, angenommen und abgelehnt. Jede Rolle wird von mindestens einer Person eingenommen, sodass eine Person auch mehrere Rollen innehaben kann. Ein paar wenige Rollen waren und bleiben den beiden Geschäftsführern zugeordnet. Doch auch sie haben die Rolle Kollege. Aber wer holt die Post? Gibt es wirklich nur einen Infografik-Designer bei uns? Und was macht der Chef am besten, wenn es keinen Chef mehr gibt?

Neues Ich, neue Chancen

Die Loslösung von einfachen Positionen verändert auch die Kommunikation nach außen. Wenn die volle Projekt-Verantwortung bei der Texterin liegt, sie aber als Projektleitung auftritt, stellt sich keine Frage der Kompetenz, über Budgets zu entscheiden oder Ergebnisse abzunehmen. Das Vertrauen, das aus dem Unternehmen in die Rolle und mithin in die Expertise der Person fließt, geht über sie in die Kommunikation und Arbeit mit Kund:innen über und generiert Sicherheit auf beiden Seiten. Es steht dann außer Frage, dass es womöglich neben unserer System-Designerin, die das Projekt dieses Mal verantwortlich zeichnet, noch jemanden gibt, der eine valide oder eine höhere Entscheidungsinstanz innehat. Das Selbstbewusstsein, das hier im Team entsteht, ist zweifelsfrei eine der bedeutendsten Auswirkungen. Die hierarchische Kontrolle weicht verteilter und ausgesprochener Verantwortung. Dass es für ehemals Vorgesetzte und Mitarbeitende nicht immer einfach ist, die Kontrolle abzugeben oder die Macht anzunehmen, ist nachvollziehbar und immer noch ein laufender Prozess. Doch der stetige Austausch und die Möglichkeit, bei Bedarf die identifizierten Expertisen im Team anzufragen, lässt Sicherheit wachsen – nach innen und außen.

Klar ist: Die neue Struktur muss ständig gelebt und belebt werden. Der Prozess ist mit der Verteilung nicht abgeschlossen. Hierzu haben wir einstimmig beschlossen, dass jede und jeder Spannungen auszusprechen hat, wenn sie gespürt werden und das Arbeiten beeinflussen. Best Case: Man hat auch einen Lösungsvorschlag. Und wenn nicht, wird diese Unwucht dennoch ernst genommen.

Klingt nach Kuschel-Pädagogik? Keines Falls. Die hohe Selbstorganisation und Eigenverantwortung verlangt nämlich auch, dass sensible Themen direkt und persönlich zu klären sind. Das Rollenmodell schützt dabei, vor persönlichem Konflikt. Als Kollege gibt es nämlich vielleicht gar kein Problem. Als Projektleiterin wartet man auf Infos des Präsentationsdesigners. Sie betreffen konkret das Projekt und damit die gemeinsamen, kreativen und wirtschaftlichen Zielen. Konstruktive Kritik und offene Kommunikation sind in diesem System ein entscheidendes – vielleicht das entscheidende Momentum. Die ausgesprochenen Erwartungen stecken Rechte und Pflichten ab. Mehr noch: Aus stillen Erwartungen werden klare Aufgaben. Ein transparenter Arbeitsprozess ist definiert und schafft die Rahmenbedingungen, sich darin frei zu bewegen. Wenn klar ist, was zu tun ist, wird auch nachvollziehbar, ob es getan wird. Arbeiten wird greifbar und nachvollziehbar – für alle Beteiligten.

Und jetzt alle!

So komplex es wirken mag, Strukturen zu ändern oder aufzulösen – das können wir heute sagen – ist möglich: indem man es tut. Aber vor allem, indem es jede und jeder tut. Das reine Vorhaben, bei gleichzeitigem Festhalten an alten Positionen, verhindert jede Entwicklung zum neuen System hin. Diese These erfährt Bestätigung in Mitarbeitenden, die im Prozess an wesentlichen Treffen verhindert waren. Sie fehlten wirklich. Neue Mitarbeitende können sich in ein bestehendes System einfinden. Doch die Entwicklung raus aus dem Alten in das Neue ist bestmöglich gemeinsam zu gestalten. Es braucht das gemeinschaftliche Bewusstsein und den Willen für das neue Arbeiten. Dann gilt: better done than perfect! Rollen müssen mit Leben gefüllt und naturgemäß erprobt und austariert werden. Dynamisch und prozessoffen bleiben, auch wenn scheinbar strikte Strukturen wirken. Das giltf ür das neue Arbeiten und auch für unseren Rollenprozess, selbst. Hier entstehen Fragen und Einwände, die nicht übergangen, aber auch nicht notwendigerweise umgehend bearbeitet werden müssen. In unserem Prozess notieren wir Spannungen und klären sie in Follow-ups.

Der Prozess ist persönlich spannend und unternehmerisch wertvoll. Mehr Produktivität und Kreativität, mehr Klarheit und Sicherheit – es ist eine echte Investition. Und sie lohnt sich. Denn wir erleben uns wirksam und wichtig – für uns selbst, den gemeinsamen Erfolg und die Gesellschaft. Wer wir waren, sind wir geblieben. Nur besser.

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